Jarle Saursaunet

Norweger, 1923 geboren. 1943-1945 Frontsoldat in Deutschland 1945-1949 deutsche Identität. Fotografiert 2006.

Ein kleiner Schritt zurück, noch ein Schritt. Eine fehlende Hand des "deutsche-Seite"-Mannes. Einige zusätzliche Zentimeter, noch ein Schritt und er steht zu hinterst.

Der 22-jährige Jarle Saursaunet aus Beitstadt in Sør- Trøndelag befindet sich auf einem Lastwagen.

Er wurde von den Russen gefangen genommen, noch nach den letzten Kämpfen um Berlin, im Mai 1945. Das einzige woran er denken kann ist Flucht – vom Lastwagen herunter und weit fort. Sonst wird er sterben – er will nicht sterben! Es gelingt ihm, mit Hilfe der anderen Männer auf dem Lastwagen, während der Fahrt herauszuspringen.

Er landet auf dem Rücken, bekommt keine Luft. Ob ihn wohl die russischen Wachen bemerkt haben? Den Bruchteil einer Sekunde glaubt er eine Kopfbewegung zu sehen.

Aber bei den Wachen klirren die Wodkaflaschen. Der norwegische Bursche läuft. Er läuft über die Straße, hinein in einen Park. Tote liegen verstreut herum. Einer dieser Toten wird zur Rettung für den norwegischen Ostfrontsoldaten.

Zwei Jahre zuvor, im Mai 1943 steht Jarle Saursaunet am Kai in Oslo. Gemeinsam mit 20 weiteren norwegischen jungen Burschen aus Beitstadt ist er dabei, an Bord des deutschen 14 000-Tonners „Monte Rosa“ zu gehen.

Er möchte Dienst leisten für Hitler. Jarle hasst die Kommunisten, die Bolschewiken, die Juden. Er hat seine arischen Hausaufgaben gemacht, hat schon zwei Jahre lang der NS angehört.

Rund 15 000 Norweger sind während des Krieges freiwillig der Waffen-SS beigetreten. Mehr als 6 000 von ihnen kämpften in verschiedenen Divisionen, als Hitlers Spezialtruppen. Jarle ist einer der 700 Norweger des Regimentes Norwegen. Und nach einer Rekrutenperiode in Deutschland beginnt sein erster Auftrag in Hitlers Panzerkorps in Kroatien. Er ist Bote, hält Wache und erledigt kleinere Aufträge. Danach wird er spezial- ausgebildet – an einer Reihe verschiedener Fahrzeuge, angefangen bei Motorrädern bis hin zu schweren Klöckner-Lastwagen von Opel, die Kanonen ziehen können.

Dies wird ihm später, als er 1944 an der Ostfront bei Narva, an der Grenze von Russland und Estland kämpft, noch zugute kommen.

Sein letzter Auftrag als Elitesoldat in Hitlers Heer ist die Verteidigung von Berlin. Am 21. April beginnt der sowjetische Angriff auf die Stadt. Am 7. Mai müssen die Deutschen kapitulieren.

Jarles Dienst als Mann Hitlers endet in einem zerbombten Hochhaus, wo ihn russische Soldaten gefangen nehmen und auf diesen Lastwagen hinauf kommandieren.

Nun schaut er sich in dem Park um. Er sieht die vielen toten Menschen herumliegen. Er weiß das er sich der Uniform, die ihn als norwegischen SS-Soldaten ausweist, entledigen muss. Er wirft sie ins Gebüsch. Er beeilt sich, entkleidet einen Soldaten, nimmt seine Identitätspapiere und sein "Soldbuch“ an sich.

Die Hosen sind etwas zu kurz, aber es muss gehen. Es gelingt ihm die Identitäts- marke von dem toten Körper abzulösen, dem jungen Soldaten wurde der Hals fast ganz abgerissen.

Er wurde wohl von einem Granatsplitter getroffen, denkt Jarle. Von diesem Tag an ist sein Name nicht mehr Jarle Saursaunet, sondern Walther Schönen.

Er wird ihn vier Jahre lang behalten. Er schaut sich seine neue Identität an, er schaut in die Papiere die er im Park an sich genommen hat. Walther Schönen aus Dortmund, geboren 1924, Soldat in der Wehrmacht.

Das bedeutet, dass er nun zwei Jahre jünger ist, als er selbst, das mag gehen. Jarles Deutsch ist fließend. Er verschafft sich Zivilkleidung bei einer freund- lichen Familie dort in der Nähe. Nun kann nichts mehr aufgedeckt werden. Walther fühlt sich glücklich, begünstigt. Er beginnt sein neues deutsches Leben im Dörfchen Vachdorf, etwas unterhalb von Berlin. Ihm wird Landarbeit zugewiesen, später Waldarbeit.

Aber in Walthers Leben gibt es auch einen Jarle. Einer Handvoll Menschen hat er gewagt zu vertrauen, hat sie in die Geschichte des norwegischen Jungen eingeweiht. Einige von ihnen werden eine wichtige Rolle in Walthers Zukunft spielen, z.B. ist da Dr. Behr, eigentlich Ingenieur, dann Soldat, verwundet bei Stalingrad.

Nun ist er beauftragt, deutsche Soldaten zu registrieren, sie wieder ins Arbeitsleben zurückzubringen. Bei einem Bier, unter starken Zweifeln, erklärt Walther ihm welches Leben er gewählt hat. Dr. Behr nickt still, holt Stift und Papier hervor. Die Anschrift eines Kontaktes weit im Norden wird notiert.

Auf diese Weise erfahren Mutter und Vater, daheim in Beit- stadt, dass ihr Sohn den Krieg überlebt hat. Päckchen und Briefe seiner Familie in Norwegen geben ihm heimlich das Gefühl eines Zuhauses, weit weg. Aber immer noch ist die Unsicherheit zu groß – Walther muss seine Vergangenheit bis auf Weiteres verschweigen.

Ein Jahr vergeht, es ist der Sommer 1946. Es wird enger in der kleinen ostdeutschen Stadt Vachdorf. Walther spürt Veränderungen. Kommunisten ergreifen die Macht in der Stadt. Offene Gespräche gibt es nur noch unter sehr loyalen Freunden.

Eine Diktatur ist im Begriff gegen etwas anderes ausgewechselt zu werden. Die DDR, Ostdeut- schland, entsteht. Das Leben in Vachdorf wird allmählich zur Zwangsjacke.
Im Frühjahr 1948 entscheidet sich Walther.

Er lässt sich von einem Kameraden überreden, der die Flucht in die BRD plant, den freien Westen. Als Tag der Flucht wird der 2. Ostertag festgesetzt. Eine Zugreise, ein letztes Stück des Weges zu Fuß, ein verabredetes Treffen an einem Gasthaus und ein nervenaufreibendes Kriechen auf den letzten 30 Metern bringt die zwei Ostdeutschen schließlich über die Grenze.

Von nun an spielt Ella Pilz, eine der Eingeweihten und Lehrerin in der BRD, eine wichtige Rolle in Walther Schönens Leben. Es gelingt ihr, Arbeit für ihn zu finden – in den Kohlegruben der kleinen Stadt Herten.

Hier baut er allmählich nochmals ein Dasein auf. Immer mehr Menschen werden in sein Geheimnis eingeweiht, aber im Westen ist seine eigentliche Identität nicht gefährlich für ihn. Hier herrscht Freiheit, der Krieg ist seit beinahe drei Jahren vorbei. Überlegungen sich bei der Fremdenlegion zu bewerben, führen dazu, dass Walther eines Tages seine nötigen Identitätspapiere mit der Post aus Norwegen zugeschickt werden. Aber die Taufurkunde kommt nicht alleine.

"Willkommen daheim“ steht auf einem Zettel, mit Grüßen vom Außenministerium in Norwegen.

Im Umschlag liegen Lebensmittelmarken und Reisetickets. Walther trifft eine Entscheidung, vor der er lange gezögert hat, der Gedanke jedoch ständig in seinem Hinterkopf gearbeitet hat. Im Oktober 1949 setzt er sich in einen Zug nordwärts. Dies soll Walther Schönens letzte Reise werden.

Jarle Saursaunet steht wieder auf norwegischem Boden. Sechs Jahre sind vergangen seit er das deutsche Truppentransportschiff "Monte Rosa“ betrat.

Im Jahr darauf, wieder wohletabliert zuhause in Nord- Trøndelag, wird Jarle zu 1 Jahr und 6 Monaten Zwangs- arbeit verurteilt – wegen Kriegsverbrechen!

Er verbüßt 3 Monate im Ilebu Gefängnis, einst Grini Konzentrationslager.

Nach diesen drei Monaten wird er jedoch begnadigt.