Heinz Küster

Deutsch, 1927 geboren. Soldat der Wehrmacht und Überlebender der russischen Kriegsgefangenschaft 1944-1945. Fotografiert 2006.

Sie hören Kirchenglocken läuten als sie,nunmehr Gefan- gene, das russische Gefangenenlager in Frankfurt/Oder am 12. November 1945 erreichen.

Ein Hoffnungszeichen, denken sie. Ein Zeichen dafür, daß Hoffnung besteht, daß es möglich ist zu überleben. Ein Gotteszeichen für sie nicht aufzugeben, erinnert sich Heinz Küster.

In einer deutschen Kleinstadt, in der Krieg und Bomben alles ruiniert haben, läuten dessen ungeachtet die Kirchenglocken.

Obwohl sie vollständig erschöpft, hungrig und abgemagert nach drei Wochen in der Transithalle sind, entfachen die Glocken wieder Lebensfunken bei den beiden deutschen Kriegsgefangenen. Während ihres Aufenthaltes hier werden sie Tag für Tag dieses Lied hören, diese drei Schläge, die ihnen bestätigen, dass es noch ein Leben außerhalb der Gefangenschaft gibt.

Aber obwohl der Keim eines Überlebensinstinktes bei den beiden Soldaten zu wachsen beginnt, ist das Leben im Lager unhaltbar. Sie müssen Leichen räumen. Anhänger werden zur Krankenbaracke gerollt, in die sie die Leichen stapeln müssen. Danach schieben sie die Anhänger zu unzähligen Massengräbern, um die Last zu entladen.

Eines Tages bewegt sich etwas in den Leichenstapeln.

Ein Mann lebt. Einige Gefangene, darunter Heinz, springen hinunter in den Leichenhaufen. Sie balancieren auf den toten Körpern. Dem Mann muss geholfen werden, der Mann muss gerettet werden. Von oben sehen sie zwei Gewehrmündungen auf sich gerichtet. Russische Soldaten befehlen ihnen, aus dem Graben zu steigen und den Mann liegen zu lassen. Sie klettern aus dem Massengrab heraus. Der Mann bleibt liegen. Lebendig begraben.

Heinz` Augen füllen sich mit Tränen als er das erzählt. Selbst 61 Jahre nach dem Krieg hat er ein fotografisches Gedächtnis.

Grausame Erinnerungen überwältigen ihn.

So ist auch der Alltag im Lager. Es gibt zwei Alternativen: Entweder schaffst du es heimzukehren oder du stirbst.

Viele Gefangene brechen sich absichtlich ihre Arme oder Beine, verletzen sich mit schweren Eisenstangen um für arbeisuntauglich erklärt zu werden und damit entlassen zu werden, erinnert sich Heinz. Aber er kann das nicht, nicht einmal den Gedanken kann er ertragen. Außerdem würde er dann außerstande sein seiner Mutter bei der Arbeit auf dem Hof zu helfen.

Er fasst stattdessen einen anderen Plan um heraus zu kommen. Er und zwei Mitgefangene essen jeder ein ganzes Stück Seife. Sie trinken so viel Wasser wie sie nur können. Heinz schüttet fast sechs Liter in sich hinein. Sie warten und hoffen das beste: dass sie krank werden, dass sie wertlos sind für die Russen.

Aber außer starkem Magenkneifen erreichen sie nichts. Der Überlebensversuch der drei jungen Burschen schlägt fehl. Heinz muss einen neuen Plan schmieden. Am Tag darauf entschließt er sich, sich aus dem Lager heraus zu hungern. Er verweigert sowohl Essen als auch trinken. Drei Tage später ist er so schwach, dass er ohne Hilfe nicht mehr gehen kann.

Zehn Tage später befindet er sich in der Krankenstube.

Am 2. Weihnachtstag schreibt Heinz einen Brief. Es ist der erste Brief von ihm seit seiner Einberufung. Und er ist sicher das es der letzte Brief sein wird.

Er weiß, daß er sterben wird. Es fehlen ihm die Kräfte dagegen auf zu begehren. Der 18 Jahre alte Heinz Küster weint während er schreibt.

Er schreibt an seine Mutter, er teilt ihr mit, dass er nicht überleben wird.Er bittet sie, sein Lieblingspferd von ihm zu grüßen. Das Pferd namens Fanny, zu hause auf dem Hof. Aber so, wie der junge Heinz glaubt, soll es nicht kommen.

Die russische Ärztin von der Krankenstube ist ihm zugetan, dem Jungen, den sie "Küsterchen“ nennt.

Sie erlaubt dem deutschen Jungen nicht, sich aufzugeben. Sie erlangt Gehör bei ihren Vorgesetzten. Am 3. Weihnachtstag wird er entlassen. Er hatte im letzten Augenblick Erfolg.

Heinz weint, schreit, lacht, muss von zwei Soldaten gestützt werden, um stehen zu können. Er wiegt 36 Kilo. Aber er wird nach Hause fahren.

Das einzige Hindernis ist noch der Brief. Er liegt bei der ausgehenden Post, die die Russen lesen werden.

In ihm steht, in vom Weinen verzerrter Schrift, dass sein Magenübel selbst verschuldet ist. Das gleicht einem Fluchtversuch, worauf das schwarze Loch steht und das Heinz ́ Mitgefangene auch bestraft werden.

Aber Heinz hat nochmals Glück.Jemand hilft ihm den Brief aus dem Postsack zu fischen und zu verbrennen.

Am 3. Weihnachtstag 1945, um drei Uhr Nachmittags, wankt Heinz zum Tor hinaus. Hinaus in die Freiheit, nach Hause auf den Hof, zur Mutter und zu Fanny.

Mehr als 60 Jahre danach hat Heinz immer noch nicht das Glockenspiel vergessen, das in ihm und seinen Mitgefangenen an jenen schweren Tagen im Winter 1945 neue Hoffnung entzündet hat.

Seither hat er sich gefragt, woher der Klang der Kirchenglocken kam. Jahrelang befragt er Anwohner, ob sie wüssten von wo der Klang der Glocken kam, den man vom damaligen russischen Gefangenenlager aus hören konnte.

Am 30. Oktober 2005, genau um 9.20 Uhr morgens hält ein Mann sein Telefon aus dem Fenster. Er wohnt neben der Kirche St. Georgen in Frankfurt/Oder. Am anderen Ende lauscht Heinz Küster.

Er hört den Glockenklang. Es ist der gleiche Klang, er löst das gleiche, unbegreifliche Gefühl aus, noch nach 60 Jahren.

"Dies war ein ganz besonderer Augenblick in meinem Leben. Nach sechs Jahrzehnten erschien mir jener Glockenklang genau so himmlisch wie damals“.