Andries J. Kroese

Niederländer, 1941 geboren. Überlebender des japanischen Gefangenenlagers in Indonesien, 1942-1945. Fotografiert 2006.


Er war Mr. Perfect.
Das ist das Bild das ich von ihm habe.

Andries J. Kroese spricht darüber, was er aus seinen ersten Lebensjahren erinnert. Ab und zu ist er unsicher, ob es Geschichten sind an die er sich erinnert oder Geschichten die er erzählt bekam. Aber die Erinner- ungen an den Vater, Mr. Perfect, sind wieder-erzählte Geschichten, dass weiß er. Trotzdem sind diese Erinner- ungen die stärksten. Sie werden ihm und der Mutter helfen, viereinhalb Jahre japanisches Konzentrations- lager zu überstehen.

Andries J. Kroese wird 1941 geboren, im gleichen Jahr des Angriffs der Japaner auf Pearl Harbor, dem Jahr des Eintritts der Amerikaner in den zweiten Weltkrieg.

Sein Vater ist zu dieser Zeit Kapitän zur See, und die kleine dreiköpfige Familie wohnt auf der indonesischen Insel Java, einem von den Holländern verwalteten Kolonialgebiet.

Der Angriff auf die amerikanische Marinebasis sorgt dafür, dass sich Furcht unter den Kolonisten ausbreitet, und der holländische Kapitän Kroese erhält Bescheid, das Gebiet zu verlassen. Er reist nach New York, während Frau und Sohn auf Java zurückbleiben. Der kleine Andries ist 9 Monate alt. Es zeigt sich das die Furcht nur zu begründet ist! Im Lauf kürzester Zeit werden alle Holländer – insgesamt mehrere hunderttausend – von den Japanern gefangen genommen. Andries und seine Mutter werden auf einen Güterzug geladen, ohne die Endstation zu kennen. Es zeigt sich, dass Lampersari die Endstation ist – ein japanisches Frauenlager.

Jungen ab 10 Jahren und darüber hinaus werden allein in Arbeitslager für Männer geschickt. Jüngere Kinder bleiben bei ihren Müttern im Frauenlager. Andries ist nun bald 1 Jahr.

Sie hoffen, sie glauben, dass dieser Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein wird. Die Erwartungen an England, dass die Alliierten die Kontrolle über die Japaner zurückgewinnen werden, sind groß. Aber es soll dreieinhalb Jahre dauern bis Andries und seine Mutter freigelassen werden.

Sie passen sich rasch den kümmerlichen Verhältnissen im Lager an. Es ist der Mangel an Essbarem, der ihnen am Meisten zu schaffen macht.

Nach 3 Monaten haben sie alle Ratten, Schlangen und Mäuse dort verzehrt. Ab und zu verhandeln sie mit der Lokalbevölkerung durch den Zaun des Lagers hindurch. Haben sie Glück, gelingt es, einige Bananen zu beschaffen.

Andries ́ Mutter wird als Köchin angestellt. Und wenn sie Reis kocht, schmuggelt sie das ihr Mögliche zum Sohn, obwohl sie weiß, dass das Risiko, ertappt zu werden, groß ist und die Strafe dafür streng. Sie hat einen Gürtel für den kleinen Jungen angefertigt, mit einem Zettel der eine Adresse enthält an die er gesandt werden soll bei Kriegsende, falls ihr etwas geschehen sollte.

Andries muss Unkraut zupfen, viele Stunden, Tag für Tag, in all diesen Jahren. Er versucht Worte zu finden, für diese ersten Erinnerungen.

Das Erlebte, von Erzähltem zu tren- nen. Er erinnert sich an die Strenge des Lagerlebens, er kann nicht frei umher laufen. Er erinnert sich an die festen, routinierten Laute, die bezeugen das Menschen leiden, er erinnert sich an das Bild der Mutter, als sie geschlagen wurde.

Er erinnert sich an Bestrafungen, wenn Anord- nungen nicht befolgt wurden. Wenn ein Kind unfolgsam ist, wird die Mutter dafür bestraft. Aber auch an Humor, Lachen und Essenphantasien kann er sich erinneren.

Er erinnert sich, wie sie Appell stehen, er immer neben der Mutter. Einmal sieht er sie auf einer Bahre liegen.

Sie ist an Beriberi erkrankt, durch Vitamin B Mangel verursacht. Sie wird zur Krankenstube gebracht, ist im Begriff zu sterben. Andries erinnert sich, dass die Mutter ihn verlässt. Eine schreckliche Erinnerung, vor allem die Angst verlassen zu werden.

Aber er erinnert sich auch an den Augenblick ihrer Rückkehr. Sie ist aus der Krankenstube geflohen. Enorme Erleichterung, enorme Freude.

Aber diese ganze Zeit hindurch, während des Alltags im Lager, sind es die ́Erinnerungen ́ an den Vater – Kapitän zur See Kroese, die sie aufrecht halten. "Warte nur ab bis Vater kommt". Andries erinnert sich an das Gefühl, die Hoffnung, den Vater zu finden.

Die Mutter idealisierte ihn enorm während des Krieges, sagt Andries heute. Er glaubt, dass dieses Gefühl entscheidend war für ihr Überleben, die Gewissheit, dass das gute Leben nach dem Lagerdasein beginnen werde. Kapitän Kroese hat die Mutter schon einmal vor Gefangenschaft bewahrt.

Damals kaufte er sie frei von einem Arbeitskontrakt – einem Sklavenkontrakt!
Es ist eine "Aschenputtel-und-der-Prinz-Geschichte", erzählt Andries.

Ihre Liebe und Dankbarkeit für ihren Mann waren grenzen- los. Aber nicht Kapitän Kroese sollte sie aus dem Lager retten. Es ist die Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfen wird, die ein unmittelbares Ende der japanischen Kontrolle über Indonesien setzt.

Dies wird zu einem Freudentag für Andries und mehrere hundert- tausend anderer Holländer in Gefangenschaft. "Wir feierten die Bombe auf Hiroshima, wir hatten keinerlei Sentimenta- lität für die Japaner", sagt Andries. Es sind "Gurkhas", Spezialkräfte des britischen Heeres, die das Lager als Erste erreichen, um sie zu befreien. Andries beschreibt sie als Helden, barsche Kerle mit großen Maschinen- gewehren.

Er ist viereinhalb. Er bekräftigt dies nach- drücklich. Aber nun beginnt die vielleicht gefährlichste Zeit für Andries und seine Mutter. Zwei Monate lang leben sie im Versteck, um nach Singapur zu kommen. Unruhen explodieren im Land, nun sind auch die Indonesier zu Feinden geworden. Sie verlangen ihre Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Holland.

Eines Nachts werden Gefangene in Lastwagen gepfercht – insgesamt 3 Autos. Das erste verunglückt, es brennt völlig aus. Andries und die Mutter sitzen in Lastwagen Nr.2.

Es gelingt ihnen, die Grenzposten zu umgehen. Sie kommen in ein Sammellager, bevor sie weiter reisen. Sie können sich zwischen Australien und Holland entscheiden. Sie wählen Holland. Erst dann ist die Gefangenschaft vorüber, die Japaner sind besiegt, das Lagerleben ist zu Ende. Und erst jetzt erfahren sie, das Kapitän Kroese, Mr. Perfect, tot ist. Es sollte sich zeigen, dass der Vater schon im Jahre 1942 starb, dem Jahr, in dem er Java verließ und nach New York ging.

Dies wird ihnen nie mitgeteilt. Zu dieser Zeit sind die beiden im Konzentrationslager Lampersari und sehnen sich nach ihm. Aber vielleicht war gut, dass sie ahn- ungslos gewesen sind, glaubt Andries. Die Mutter wäre zusammengebrochen, wenn sie nicht an ihren Mann hätte denken können, an ihn zu denken gibt ihr Kraft.

Es gibt ihr Energie, um hoffen zu können, zu träumen, zu überleben, eine Energie die sie an Andries weitergibt. Später hat Andries viel Zeit aufgewendet um dies Verhältnis von ihm zur Mutter zu ergründen, versucht aufzudecken, was seine frühen Kinderjahre in Gefangenschaft mit ihm gemacht haben.

Etwas Wichtiges ergibt sich aus der Suche in der Vergangenheit. Er erkennt, dass seine Kindheit, bis zu seinem 5. Lebensjahr, von enormer Sicherheit geprägt war, einer Mutter die stets bei ihm war, die ihm erzählt, wie sehr sie ihn liebt.

Dies gibt Andries ein Selbstbewusstsein, das Gefühl geliebt zu werden. Im Lager ist er von einem Milieu und Rahmen aus Routine und Regeln umgeben, an die man sich leicht halten kann. Als vier-, fünfjähriger wusste er nichts über ein Leben außerhalb der Gefangenschaft, kannte nichts anderes als Essensmangel und strenge Umgebung. Zu seinem 6. Geburtstag, mehr als ein Jahr nach Kriegsende, wünscht er sich Soga-Grütze als Geburtstagsessen, dieses nährstoffarme Gericht das sie im Lager bekamen. Er liebt diese Grütze, Soga-Grütze bedeutet für den Sechsjährigen Sicherheit und Liebe.

Andries wohnt nach dem Krieg einige Jahre in den Niederlanden. 1968 ist er fertig mit seinem Medizin- studium. Auf einer Reise nach Istanbul trifft er eine Norwegerin, die er später heiratet. Heute ist er Herzchirurg am Aker Universitätskrankenhaus in Oslo, und hat außerdem mehrere Bücher über Stressbewältigung geschrieben, aus der Sicht fernöstlicher Prinzipien.

Er denkt viel über menschliche Leiden nach, es schmerzt ihn zutiefst, Menschen leiden zu sehen. Er versucht zu ergründen, warum es so viel Grausamkeit in dieser Welt gibt. Er möchte Frieden schaffen, in Frieden leben, fängt bei sich an. Der Buddhismus ist wichtig geworden für Andries. Er gibt Antworten, führt weiter auf der Suche nach Sinn und innerer Ruhe.

"Ich muss selbst in Frieden leben, erst dann kann ich Frieden schaffen!"